Von Nagoya aus sind wir Richtung Süden ans Meer, mit der Fähre nach Tobo (Präfektur Mie), haben die Halbinsel via Wakayama am Meer entlang umrundet und anschliessend wieder mit der Fähre nach Shikoku übergesetzt, wo später Louise dann wieder zu uns gestossen ist.

 

Nagoya, Wakayama und etliche andere Städte sind leider ausdruckslos, da sie entweder im 2ten Welkrieg oder über Erdbeben oder Taifuns so stark zerstört wurden, dass die wenige vorhandene Substanz beim Wiederaufbau einer breit angelegten Schachbrettplanung und schnell errichteten (Hoch-)Häusern weichen mussten.

Die Küste südlich von Tobo bis Kushimoto und die Insel Shikoku indessen gehören für mich vom Schönsten, was Japan zu bieten hat (Hokkaido kennen wir noch nicht, das kann ich also nicht beurteilen).

Hier haben wir x-mal die Gelegenheit gehabt im Meer Wale und Delfine zu sehen und ihre eindrücklichen Sprünge über die Wellen hinaus (so auch im zoologischen Museum von Taiji. (Das schwarze Tier in der Luft ist ein Wal!).

Was wir indessen gar nie sehen, sind Tiere an Land. Keine Weiden mit Kühen, keine Pferde, keine Schweine, keine Hühner, ja selbst Hunde und Katzen sind selten. Die bewirtschaftete Landschaft ist geprägt von Gewächshäusern und Reisfeldern, je nach Region Kulturen mit Zytrusfrüchten, selten einmal Apfelbäume, viele einzelne Kakibäume und natürlich auch noch Sojafelder. Alles andere wird wohl importiert ( ausser dem Fleisch und den Milchprodukten, welch aus Hokkaido stammen).

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Die Landschaften sind genau so, wie wir es von den Fotos und Kalendern her kennen. Wenig besiedelt, zerklüftete Ufer, Kiefern, welche sich verkrümmt den Weg nach oben suchen, riesige Bambuswälder, vereinzelte Sandstrände, im Landesinnern tiefe Wälder und Flusstäler mit malerischen, in der Zeit stehengebliebene Holzhäuser.

 

Die Schattenseite davon: viele Häuser wurden verlassen, brechen oder wachsen ein. Einerseits liegt es an der Landflucht der jüngeren Generationen (das Durchschnittsalter der LandwirtInnen wird auf ca 67 Jahre geschätzt), andererseits findet in Japan ein beängstigend starker Rückgang der Bevölkerung aufgrund der unterdurchschnittlichen Geburtenrate statt, gepaart mit einer quasi  Nulleinwanderungspolitik. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/19305/umfrage/gesamtbevoelkerung-in-japan/

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Der andere Nachteil für uns Gajin in diesen Regionen trotz der sehr herzlichen, aber stark überalterten Bevölkerung liegt darin, dass niemand mehr englisch spricht, es wenige Konbinis gibt (die sind ja in jeder Lebenslage unsere Rettung) und wir somit nur staunen können. Auch Restaurants können wir von Aussen her von anderen Häusern oder Geschäften nicht unterscheiden. Ausserdem gelten (wie überall ausser in Grossstädten) strikte Öffnungszeiten (Essensbestellung von 12:00-13:30 und 18:00-spätestens 19:30; generell isst man in Japan früh – es wird auch bereits um ca 04:30 hell, um 18:00 dunkel).

 

Realität und Projektion, Sein und Schein

Häufig müssen wir unsere von Medien und Werbeprospekten vorgefassten Bilder Japans revidieren.

So haben wir das Bild der minimalistisch und puristisch eingerichteten Häuser, des Perfektionismus und der technischen Highlights. Ja, das gibt es – doch vor allem in Grossstädten und in privilegierten Kreisen. Vor eine grössere Mehrheit der Bevölkerung gilt dies allerdings nicht.  Häufig haben wir nun Einblick in Wohnhäuser erlangt, welche mit allerlei Krimskrams vollgestellt waren, wo an der Haustechnik, bei den Renovationen und dergleichen wacker herumgebastelt wurde. 

Besonders die privaten Küchen entsprechen so gar nicht unserem Bild vom puristischen und modernen Japan. (Da man in Japan ausser Familie niemanden zu sich nach Haus einlädt spielt die (Un-)Ordnung oder Einrichtung auch keine Rolle). - Grosse Ausnahme: die Toiletten: sie sind immer und überall total modern und Ultra sauber, selbst auf Autobahnraststätten, in Konbinis und Warenhäusern, Mitten in der Pampa.

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Auch: was wir im Handwerklichen oder Musikalischen meinten, dass es in Japan weitverbreitet und selbstverständlich wäre, erweist sich als Projektion.

Mir ging es so mit dem Stricken: Wollgeschäfte findet man ganz wenige landauf landab. Selbst das riesige Tokyo wartet mit lediglich ca 5 Geschäften auf (1 Laden pro 8mio EinwohnerInnen!!!). Die in Japan hergestellte Wolle Noro ist einfacher über die USA oder Deutschland zu bestellen als in Japan zu kaufen (ich habe mit grossem Aufwand in ganz Japan 3-4 Geschäfte gefunden, welche eine halbwegs gute Auswahl haben). 

Dies erhärtet den Hinweis, dass in Japan nur sehr wenige stricken.

Es ist aber natürlich nicht nur beim Stricken so. 
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Die sehr berühmten und wohl präzisesten Krälleli (Rocailles, Glasperlen oder auch Beads genannt) von Miyuki und Toho sind nirgends aufzufinden, mit Indigo gefärbte Stoffe nach traditioneller Machtart gibt es nur im Museumsshop (mittlerweile gibt es in ganz Japan nur noch ein Museum, welches sich dieser Handwerkskunst widmet und dieses ist seit Covid geschlossen :-( oder per Internet. Bei den phantastischen Messern muss man genau hinschauen, dass sie nicht Made in China sind. Die Bagger von Takeuchi, die Motorräder Honda, Kawasaki, Yamaha, Suzuki sind fast ausschliesslich für den ausländischen Markt gemacht.

Die westliche, klassische Musik wird zwar gespielt, das schon, aber viele Konzerthallen und Konzerte gibt es deshalb noch lange nicht – allerdings: klassische japanische Musik noch viel weniger.

Ich könnte noch viele Beispiele nennen, bei welchen wir – etwas naiv -  geglaubt hatten, sie gehörten zum japanischen Alltag und feststellen müssen, dass die Gesellschaft diesbezüglich ganz ähnlich tickt, wie im Westen: die traditionellen (Kunst-)Handwerke sind am aussterben, das Material wird via Internet gekauft.

 

Und noch eine Westler-Fantasie: wir haben häufig die Bilder der schrägen jungen Frauen und Männer von Japan vor Augen, mit ihren gefärbten Haaren und den grellbunten, auffälligen Kleider.

Ja, es gibt sie, namentlich in einem Quartier Tokyos und Osakas. Auf die Gesamtbevölkerung gesehen macht dies aber kaum 0,01% aus.

Sozusagen alle JapanerInnen ziehen sich sehr diskret an. Dunkelblau, schwarz, grau, im Sommer weiss oder crèmefarben; das ist so das Gesamtbild. Orange, gelb, rot, violett, grasgrün, bunt, mit irgend einem Aufdruck oder Logo erblicken wir äusserst selten, eigentlich nie.

(Ich wurde wegen der Bedeutung der Farben von einigen von Euch gefragt: die JapanerInnen konotieren heutzutage schwarz mit Trauer, rot ist Würdenträgern oder besonderen Anlässen vorbehalten, weiss gilt als rein und hygienisch; also alles in allem sehr ähnlich wie bei uns, ausser dass eben auffällige Farben aufgrund der vorherrschenden Diskretion und Zurückhaltung nicht getragen werden).

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Auch sind die Kleider in aller Regel nicht körperbetont, weder bei Frauen noch bei Männern, denn das wäre mit einer der wichtigsten Regeln nicht zu vereinbaren. Diese wichtige Regel, welche einer eigentlichen Grundhaltung entspricht ist: nie das gegenüber in Verlegenheit bringen, sprich beschämen und somit sich selbst beschämen, also nimmt man sich immer zurück.

 

Das bringt mich zum wichtigen Thema der

 

Schuld- und Schamkulturen

Dank eines Podcasts über die philosophische Abhandlung von Robert Pfaller „ Zwei Enthüllungen über die Scham“ bin ich, noch vor der Abreise, auf das Theam der Schuld- und Schamkultur gestossen.

Mehr dazu auch unter  https://de.wikipedia.org/wiki/Scham-_und_Schuldkultur

Damit habe ich einen Schlüssel zum Verstehen des grossen Unterschieds zwischen den westlichen Kulturen und Japan erhalten und somit einiges besser verstanden.

Während der Westen bei jedem Konflikt nach dem Schuldigen sucht oder der quantitativenBemessung von Schuld (wer trägt wieviel Schuld am Konflikt oder am Problem), ist das in Japan nicht die prioritäre Frage.

Hier ist der zentrale Punkt und die dazu gehörende Frage: Habe ich mit meinem Verhalten den anderen beschämt oder im umgekehrten Fall: wurde ich beschämt?

Im Unterschied zur Schuld, welche man mit Busse tun, Abbitte leisten oder Beichten, wieder gut machen kann, man kann sich entschuldigen (im wortwörtlichen Sinn), ist dies bei der Scham nicht möglich. 

Da geht es um Alles oder Nichts (vergl Pfaller S.30 ff), entschämen gibt es nicht.

Eng verbunden mit der Scham ist die Ehre. Wird diese durch beschämendes Verhalten verletzt, führt dies zu irreversiblen Schäden und damit Brüchen in zwischenmenschlichen Beziehungen.

Deshalb ist es auch einleuchtend, dass klare Verhaltensregeln und gut definierte Strukturen, wie auch Rituale von Nöten sind, bezw. die Wichtigkeit haben, welche ihnen in Japan beigemessen wird ( dies gibt einen Rahmen und Sicherheit im Verhalten). 

Ein sehr spannendes Thema, mit welchem ich mich die letzten Wochen intensiver beschäftigt habe und das zu meinem Verständis für die Haltung der JapanerInnen gegenüber Mitmenschen sehr nützlich war und vieles erklärt.

 

 

Dies einmal zu soweit zu Haltungen, Sein und Schein.

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